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Beim Schreiben von egal was, darf man sich eine Sache immer wieder vor Augen führen. Alle Textentwürfe und Skizzen, jedes Gespräch, jedes Kolloquium, jede Präsentation, die man zur eigenen Arbeit, Artikel oder zum Text halten kann, sind Gelegenheiten, die eigene Sprache zum gewählten Thema zu entwickeln und zu schärfen. Man erhält die Möglichkeit, die Sache in anderen Worten auszführen, gedanklich zu wälzen und weitere Facetten zu erkennen – das fordert einen heraus, sich immer wieder von einer neuen Seite her auf das gewählte Thema zu zubewegen. Dabei geht es nicht darum, schon das schlussendliche Textprodukt vorführen zu können, sondern es geht um die Vorstufen dazu. Ich muss – bevor ich an das Schlussprodukt gehen kann – zuerst einmal das Thema sprachlich «be-greifen», benennen, bezeichnen, beschreiben, in sprachliche Gestalt giessen, um darüber in einer produktorientierten Form schreiben zu können. Ich übe mich zunächst im Ausdruck. Daher ist es nicht sinnvoll, schon zu früh über das Schlussmanuskript nachzudenken, weil es einen im Prozess blockieren kann. Denke alle Textteile lieber zuerst mal als Entwürfe, als Versuche, als Zwischenstand, es darf unfertig sein. Und manche Texte dürfen auch unfertig bleiben. Akademisches Schreiben ist eben kein Instantpülverli, dass du in heisses Wasser kippen, umrühren und dann schlürfen kannst.


Schreiben bedeutet für mich, eine Sache gedanklich reifen zu lassen. Deshalb arbeite ich Gedanken sprachlich oft immer wieder um, bis ich den Eindruck habe, geschrieben zu haben, was ich schreiben wollte bzw. bis die argumentative Gestalt ihren momentan besten Ausdruck erhalten hat. Ich schreibe daher keine fixfertigen Texte, sondern übe mich im Schreiben.

 
 
 

Gestern ist immerhin ein Abschnitt zustande gekommen, für 637 Zeichen hat es gereicht. Aber heute geht gar nichts. Zwar hat man zeitig begonnen morgens, einige Pushups und Pullups im Nebenzimmer, das seit Corona auch ein Gymnastikraum ist, eine Dusche, bei der die nächsten zu schreibenden Abschnitte zurechtgelegt werden. Man hat einen starken Kaffee getrunken und das am Vorabend zubereitete Müesli gegessen, das Handy – nach einem kurzen Check – wieder in den Flugmodus versetzt. Jetzt sitzt man auf seinem ergonomischen Bürostuhl an seinem Laptop, links die noch zu referenzierende Literatur, rechts die Bücherbeige, die man sich für Ferientage aufgehoben hat. Titel, wie: «Theoretische Empirie», «Die Schweiz als Sonderfall», Masse und Macht», oder «Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive» erscheinen als stumme, aber etwas vorwurfsvolle Zeugen, weil man die Lektüre immer wieder verschoben hat, da etwas (oder zumindest ein anderes Buch) dazwischenkam. Man überfliegt die spärliche Tagesproduktion von gestern, eliminiert den einen oder anderen Fehler, entdeckt noch eine Wiederholung und legt los… Legt los: Zwar haut man den ersten Satz unter noch einigermassen flüssig in die Tasten, doch bald schon stockt die Kadenz der Tastaturanschläge. Wie ein Rennfahrzeug, dessen Motor nach der ersten Kurve stottert. Zwar weiss man einigermassen, in welche Richtung sich der Text bewegen müsste, aber nach der Hälfte eines geschriebenen Satzes fehlen die passenden Bindewörter, weil sie schon vorher exzessiv gebraucht wurden, oder dann passt der Anfang nicht mehr. Irgendwann zimmert man einen Satz in die Wortwüste von Stichworten, Kommentaren und Links, welche bereits auf dem Dokument stehen. Bereits gegen neun Uhr morgens, für einen «Early Bird» neigt sich die Kreativitätskurve bereits wieder abwärts. Und irgendwie kostet es derzeit mehr Energie, an einem neuen Satz herum zu studieren, als Mails zu checken. Sicher gäbe es in einem der zahlreichen Bücher zu kreativem bzw. wissenschaftlichem Schreiben, die sich hinter dem Rücken des Schreibenden befinden, Tipps und Vorschläge, wie mit einer solchen Situation umzugehen ist. Aber heute geht nichts, rein gar nichts. Im Hinterkopf hohnlachend der Refrain eines Stücks von «The Kinks»: «Hope tomorrow youl’ll find better things…»

 
 
 
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